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Thomas Felder
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Buttenhausen - eine Reportage

Buttenhausen, mein kleines Jerusalem (IV)

Es war höchste Zeit, zum Festakt in die Bernheimersche Realschule zurückzugehen. Dort gab es kaum noch ein Durchkommen. Der Bürgersaal war voll bis auf den letzten Stehplatz. Auf Gängen und Treppen des Hauses drängten sich die Besucher, um den Grußworten, dem Referat und der Musik zu lauschen.
Mike Münzing gelang ein erfreulicher Brückenschlag in seiner Begrüßungsansprache.
An zweiter Stelle ergriff Raphael Mizrahi, Vertreter von Yad Vashem, Jerusalem und der Israelitischen Gemeinde Stuttgart das Wort. Er nannte die geplante Reihe von Holzpflöcken »eine gute Idee«.

Bild 128 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen

Raphael Mizrahi, Vertreter von Yad Vashem,Jerusalem
und der Israelitischen Gemeinde Stuttgart
während seiner Grußworte bei der Gedenktafeleinweihung in der Bernheimerschen Realschule in Buttenhausen am 12.11.2000
.


Frau Stein bedankte sich bei mir für die Ergänzung der Arbeit von Herrn Ott, bat aber darum die Entscheidung des Ortschaftsrats zu akzeptieren. »Wir wollen kein Museumsdorf sein, sondern eine sich weiterentwickelnde Gemeinde«.

»Buttenhausen muß darauf aus sein, in Bälde Industrie anzusiedeln ... Es kann aber keinem Unternehmer zugemutet werden, etwas zu unternehmen, wenn immer mehr Juden zuwandern.« hatte sinngemäß Buttenhausens Bürgermeister Hans Hirrle 1938 besorgt an das Oberamt Münsingen geschrieben.

Herr Deigendesch stellte dieses Zitat an den Anfang seines Referats über exemplarische Einzelschicksale von Juden, die in dem so genannten Altersheim Station machen mussten. Leider redete sich der Stadtarchivar am Ende noch »in Rage« und wirbelte unnötigen Staub auf.

Als danach zum Bordun der Drehleier das Saxophon erklang und die Namen der Tafel aus der Musik auftauchten, flossen Tränen im Publikum. Spätestens beim zehnten Namen saß niemand mehr auf dem Stuhl. »Buttenhausen, mein kleines Jerusalem« gesungen auf Schwäbisch und Hebräisch ... Für mich war es das bewegendste Konzert in meiner alten Heimat seit 1983, als Amtsrichter Rainer und der Staatsanwalt wegen meinem Gesang fluchtartig den vollen Gerichtssaal verließen. Es ist ein Unterschied, ob man in irgendeiner Mehrzweckhalle singt, oder in so einem Raum wie diese Bernheimersche Realschule.
Mein Großvater erhielt um das Jahr 1920 ein Angebot, hier die Schulleitung zu übernehmen. Er zog aber das Herrenberger Gymnasium vor, von wo er 1933 nach Reutlingen strafversetzt wurde, weil er die Bilder von Hindenburg und Ludendorf aus den Klassenzimmern entfernt hatte. Statt des Großvaters kam dann mein Vater 1952 ins Lautertal, »noch hinter Buttenhausen«, wie die Familie zu witzeln pflegte.
Wäre ich eine Generation früher zur Welt gekommen, hätte ich wohl in diesem Haus meinen Schulunterricht erhalten ­ sicher keinen schlechteren als im Münsinger Progymnasium der Sechziger Jahre, wo es zum 17. Juni immer hieß: »Absingen des Deutschlandlieds mit allen Strophen«, und wo ich einmal zufällig den Direktor am Telefon sagen hörte: »Jawohl, Herr Bürgermeister, Ihr Sohn muß die Klassenarbeit selbstverständlich nicht mitschreiben«.

Zu gerne wäre ich wieder der brave Bub von damals geworden, der zu allem nickt, was von oben einstimmig beschlossen wird. Aber das ging jetzt nicht mehr. Hier und jetzt nicht. Dieser Beschluß entsprang einer offenen Wunde, die ich nicht gerissen habe und nicht heilen kann, aber vielleicht auch gar nicht heilen darf. Solange diese Wunde klafft, erkennen wir auch den Abgrund, an dem wir stehen, wo Menschen reihenweise hin- und hergeschoben und achtlos zerstreut und vernichtet werden. Jeder von uns könnte ein Teil dieser endlosen Reihe sein, deren winziger Buttenhausener Ausschnitt nun
sechs Winterwochen lang zeichenhaft am »Gutort« stehen sollte.
Ich lud alle Anwesenden dazu ein, mit mir den Weg zum Judenfriedhof zu gehen. Vorbei am Geburtshaus von Matthias Erzberger, der 1918 unzähligen Soldaten das Leben rettete, indem er ein Waffenstillstandsabkommen mit den Siegermächten unterzeichnete: sein eigenes Todesurteil, wie sich drei Jahre später zeigte.

Vorbei an dem Platz, wo vor zweiundsechzig Jahren ein junger Mann aus Münsingen mit dem Auto vorfuhr, Benzinkanister und Brandstifter mitbrachte, um das jüdische Gotteshaus in Flammen aufgehen zu lassen.
Irgendein anonymer Mann? Seine nächsten Verwandten wuschen meine Windeln, brachten mir die ersten Gitarrengriffe bei. Auch in dieser Reihe stehen wir, ob wir wollen oder nicht. »Es gab nichts anderes«, höre ich meinen Vater sagen, wenn er von der nationalsozialistischen Gleichschaltung spricht. Eine Sophie Scholl, einen Dietrich Bonhoeffer kannte er nicht, damals. Es war alles schon zu einstimmig.

Wir erreichen meinen Wagen, in dem die Namenspflöcke liegen, von Jenny Zamory bis Sophie Ackermann rückwärts dem Alphabet nach. Einhundertzwölf Namen habe ich auch im Besucherbuch abgedruckt. Die Menschen nehmen sich einen Pflock, schreiben ihren eigenen Namen hinter dem des Pflocks ins Besucherbuch, sie tragen einen Hammer und einen Stein auf dem Weg zum Friedhof. Die ersten gehen ganz nach vorn bis zum Eingang und beginnen dort mit dem Einrammen der Pflöcke.
Die Bildhauerin und Malerin Simone Schulz aus Untermarchtal berichtet mir später, wie ihr dabei zumute ist: »Übel und schwindelig. Ich schreibe mich hinter den Namen eines Menschen, dem der letzte Rest seiner Würde genommen wurde. Erst als ich den Klöpfer und diesen Pflock in den Händen spüre, als ich das Holz in den Boden treibe, Schlag um Schlag, als mein Kind den Stein drauflegt, da wird mir leicht ums Herz.«
 

Aus “Holzweg” - Die Pfähle werden am Weg zum “Gutort” eingeschlagen

Ich schätze, etwa einhundertfünfzig Menschen bewegen sich hier auf dem Weg. Sie begegnen sich bei einer gemeinsamen Arbeit, zu der sich jede/r einzelne persönlich entschlossen hat, oder als Zuschauer. Menschen jeden Alters und verschiedenster Herkunft, auch Buttenhausener. Ich sehe Juden aus Unterhausen, Göppingen, Stuttgart und Leonberg, Kirchenleute, Politiker und Kulturschaffende, Lehrer und Schüler. Viele kenne ich nicht. Um die einhundertfünfzig sollen es auch gewesen sein, die hier vor sechzig Jahren noch einmal beim Namen genannt wurden. Heute abend erhalten sie ihre Würde zurück.
Es wird dunkel. Die letzten Unterschriften werden eingetragen, die letzten Pflöcke verteilt und eingerammt. Ich beeile mich, rechtzeitig zum Kaddish, zum Totengebet auf den Friedhof zu kommen. Ein Reporter fragt mich Löcher in den Bauch, bis die Stufen erreicht sind.



Aus “Holzweg” - Nach dem Einschlagen werden,
nach alter jüdischer Tradition, Steine aufgelegt


Hunderte von Lichtern brennen dort. Pfarrer Gerhard Bergius singt, viele singen mit ihm den Refrain: »Donnai donnai ...«

Pfarrer Bernhard Leube rezitiert ein Gedicht von Nelly Sachs: »Himbeeren verraten sich durch ihren Duft im schwärzesten Wald, aber der Toten abgelegte Seelenlast verrät sich keinem Suchen« ...

Raphael Mizrahi spricht und singt das Kaddish auf Deutsch und Hebräisch am Mahnmal für die Opfer des Haulocaust. In seinem Gesang klagen sechs Millionen Ermordete, die bekannten Namen ihrer Todeslager fauchen wie hungrige Drachen aus dem hebräischen Text. Zwei frische Kranzgebinde aus Stuttgart und Jerusalem liegen an dem Mahnmal. Sechs Lampen werden davor angezündet. Ich wünschte mir, diese Lampen zusammen mit Herrn Ott, Frau Stein, Mike Münzing, Herrn Deigendesch und Raphael Mizrahi zu entzünden. Aber von den ersteren ist niemand zugegen.
Der Lichterzug setzt sich behutsam über die Friedhofstreppen in Gang, vorbei an den Holzpflöcken, am Platz der Synagoge, hinunter zum Mahnmal in der Ortsmitte. Hier setzen die Menschen ihre Kerzen ab und ordnen sie zu einem Muster unter den drei großen Gedenksteinen.


Aus “Holzweg” - die vielen Kerzen am Denkmal
in der Ortsmitte, unweit vom Schloß.


Über die Straße ging es dann zum hellerleuchteten Schloß hinauf. Die Teestube wäre zu klein gewesen für die vielen Leute. Deshalb schmückten Frau Binder und Frau Sohmer kurzentschlossen den großen Saal mit weißen Tischdecken und Blumen. Es sei so ein schöner Anblick vom Schloß aus gewesen, die vielen Lichter den Berg hinunter durchs Dorf wandeln zu sehen.
Eine reiche Auswahl an gutem Gebäck und Getränken stand bereit, so daß alle sich stärken konnten nach dem gemeinsam Erlebten. Viele Auswärtige wussten nicht, in was für einer Einrichtung sie zu Gast waren. Ihnen gab Herr Weippert einen kurzen Einblick in die wundersame Geschichte des lange verschollenen Testaments der Gräfin von Liebenstein, das wir heute mit dem »Haus am Berg« als wahrlich erfüllt betrachten können. Er erklärte, daß die meisten der heute hier lebenden Menschen mit schweren Schicksalsschlägen behaftet sind und menschlicher Zuwendung dringend bedürfen. Gedenken an die Toten sei wichtig, fügte er hinzu, aber die Lebenden dürften wir darüber nicht vergessen.
 

 

- Hier endet der “Holzweg” -

 

- Nachtrag -


Jahresausklang 2000, der Kreis schließt sich.

Nach Anregung von Yad Vashem, Jerusalem, konzipierte ich im Auftrag der israelitischen Gemeinde Baden Württemberg ein neues Denkmal in Buttenhausen. Es erinnert an einhundertundneun Menschen, die hier zum letzten Mal einen Namen hatten. Eine Aufstellung auf öffentlichem Grund war von der gewählten Gemeindevertretung einstimmig abgelehnt worden.
Am Sylvestermittag 2000 traf ich mit einer Gruppe von Helfern am Judenfriedhof in Buttenhausen zusammen. Wir nahmen die Pflöcke vom Wegrand, pflanzten Narzissenzwiebeln in die Löcher und trugen die Hölzer ins Friedhofsgelände. Unterhalb der letzten Gräber, in der Nähe des Westausgangs errichteten wir im Auftrag der israelitischen Gemeinde Baden-Württemberg das neue Denkmal. Die 109 Namen stehen jetzt in einem vierfachen Kreis mit dem Radius einer Pflocklänge (1m) dicht beieinander. Die Geometrie der Installation ist nach jüdischer Symbolik aufgebaut: Der äußere Kreis hat sechsunddreißig, der innere vierundzwanzig Namen. Sie stehen so zueinander, daß jeder sechste im Außenkreis und jeder vierte im inneren die Spitzen, bzw. Tangentenmitten des Davidsterns markieren. Dieser bleibt freilich dem uneingeweihten Betrachter verborgen. Die beiden Zwischenkreise haben drei mal sieben und vier mal sieben, also zusammen sieben mal sieben Namen.

Dies ist der Stand heute, am 22. April 2001.
Ich hoffe, mit der Veröffentlichung dieses Projektes von Thomas Felder auf meiner Web-Site einen kleinen Beitrag zum “Nichtvergessen” geleistet zu haben. Auch ist dies ein gutes Beispiel, wie man mit- und gegeneinander umgeht. Nachdenken ist angesagt, auch im ganz Kleinen und Persönlichen.

Mit Beharrlichkeit im guten Wollen bewegt man vieles, das macht Mut!

Liebe Grüße    Willi

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Bild 127 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen

Thomas Felder und
Christiane Zeul
während ihres Auftrittes bei der Gedenktafeleinweihung in der Bernheimerschen Realschule in Buttenhausen am 12.11.2000
.

Bild 129 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen
Bild 130 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen
Bild 131 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen

- Ergriffenheit -

Gedenktafeleinweihung in der Bernheimerschen Realschule in Buttenhausen am 12.11.2000
.

Bild 132 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen

Ein Gedicht am Platz der ehemaligen Synagoge, die1938 niedergebrannt wurde

Bild 133 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen
Bild 134 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen
Bild 135 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen
Bild 136 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen

Die Pflöcke werden ausgegeben. Die Menschen tragen sich in das “Patenbuch” ein und machen sich auf den Weg, um die Pflöcke an ihrem vorläufigen Platz in die Erde zu pflanzen.

Bild 137 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen
Bild 138 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen

Vertreter des Fernsehens
spendeten zeitweise Licht
- beim Einschlagen der Pflöcke -

Bild 139 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen

Die Pflockreihe verliert sich im Dunkeln, wie die Schicksale der Menschen, derer hier heute gedacht wurde...

Bild 140 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen

Still liegen Buttenhausen und sein jüdischer Friedhof da, während die Hammerschläge durch die Dämmerung hallen...

Bild 141 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen
Bild 142 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen

Pfarrer Bernhard Leube.
- Himbeeren -

Bild 143 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen

Raphael Mizrahi
spricht und singt
das Kaddish auf
Deutsch und Hebräisch

Bild 144 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen
Bild 145 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen

Viele brennende Kerzen, als Zeichen - wir haben nicht vergessen!!!

Bild 146 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen

Die Kerzen wurden von einem Kind zu 3 Zacken eines Sternes angeordnet, das war ein sehr schönes, auch symbolisches Bild...

Bild 147 aufgenommen am 12.11.2000 in Buttenhausen

Als ich nach Hause ging, lag die Gedenkstätte einsam und ruhig im Schein vieler Kerzen an meinem Weg.
Ich kehre zurück aus dem Erinnern in meine Wirklichkeit, wo vieles dem Vergessen preisgegeben wird.
Ich hoffe nur, daß vieles vergessen wird, bevor es geschieht...

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